Offener Brief an die Bundeskanzlerin: Nord- und Ostsee in Gefahr
Unter dem Druck der Ministerien für Landwirtschaft, Wirtschaft, Verkehr und Forschung hat das Bundesumweltministerium den verwässerten Schutzgebietsverordnungen in Nord- und Ostsee zugestimmt. Auch zukünftig soll in FFH- und Vogelschutzgebieten gefischt, Sand und Kies abgebaut und mit Schallkanonen der Meeresboden untersucht werden können. Gleichzeitig soll das novellierte Bundesnaturschutzgesetz den Ministerien ein Vetorecht bei zukünftigen Schutzmaßnahmen zusichern. Es droht der Ausverkauf von Nord- und Ostsee! Eine Allianz von Umweltschutzorganisationen*, darunter WDC, appelliert an die Bundeskanzlerin: Setzen Sie Deutschlands guten Ruf im Meeresschutz nicht aufs Spiel. Verhindern Sie inhaltsleere Verordnungen und sorgen Sie dafür, dass Arten und Lebensräume effektiv geschützt werden.
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Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
wir wenden uns aufgrund aktuell laufender gesetzgeberischer Prozesse, die den Schutz von Nord- und Ostsee betreffen, direkt an Sie. Diese Prozesse entwickeln sich in eine Richtung, welche die Vorreiterrolle Deutschlands beim Meeresschutz aufs Spiel setzt. Zum einen werden die Entwürfe für Schutzgebietsverordnungen in der deutschen Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) verhandelt und zum anderen wurde § 57 des Bundesnaturschutzgesetzes in der jüngsten Novelle verändert. Beide Prozesse entsprechen nach Auffassung der unterzeichnenden Umweltverbände nicht den drängenden ökologischen und rechtlichen Erfordernissen. Verschärfend kommen örtliche Ausnahmen für bodenzerstörende Grundschleppnetze hinzu, wie sie im Entwurf der Bundesregierung für eine Empfehlung an die EU zu Fischereimaßnahmen in den Schutzgebieten der Nordsee vom Frühjahr 2016 enthalten waren. Für die Schutzgebiete in der Ostsee liegt im Widerspruch zum Koalitionsvertrag noch gar kein Vorschlag vor.
Aufgrund der sich abzeichnenden Häufung fachlich unzureichender gesetzgeberischer Rahmensetzungen bitten die unterzeichnenden Organisationen Sie, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, tätig zu werden, damit der auch von Ihnen persönlich wiederholt propagierte Meeresschutz nicht zum Papiertiger verkommt. Ob es eine Zukunft für Schweinswale und Seehunde, Sterntaucher und Eisenten, Seegraswiesen und Muschelriffe gibt, entscheidet sich jetzt.
Wie ernst die Situation ist, ist allgemein bekannt. Die biologische Vielfalt in unseren Meeren nimmt unter dem zunehmenden Druck von Fischerei, Rohstoffabbau, Schifffahrt sowie Schad- und Nährstoffeinträgen weiter ab; nach Roter Liste gelten bereits ein Drittel der Arten und Lebensräume in Nord- und Ostsee als gefährdet. Auch die Anfangsbewertung nach EU-Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie (MSRL) offenbarte 2012 den schlechten Zustand der marinen Ökosysteme an unseren Küsten. Dem trägt das Handeln der Bundesregierung in der aktuellen Situation leider nur ungenügend Rechnung.
So wurde in dem am 8. Februar 2017 vom Bundeskabinett beschlossenen Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) unter dem Einfluss der Ministerien für Wirtschaft, Landwirtschaft, Verkehr und Forschung eine „Einvernehmensregelung“ in den § 57 aufgenommen, die es einzelnen Ressorts ermöglicht, künftige Verordnungen und Schutzmaßnahmen über ein Vetorecht zu verhindern. Diese Änderung unterhöhlt die Kompetenz des Bundesumweltministeriums, erschwert behördliche Abstimmungsprozesse und macht das notwendige Schutzgebietsmanagement nahezu unmöglich. Die immer weiter verwässerten Verordnungen für die Naturschutzgebiete in der AWZ sollten ein mahnendes Beispiel sein.
Nach heutigem Stand soll nach anfänglicher Beschränkung auch künftig in Schutzgebieten gefischt und mit Schallkanonen der Meeresboden untersucht werden dürfen. Das novellierte BNatSchG soll diesen unsäglichen Zustand nun bestätigen. Es obliegt dem Bundesrat und dem Bundestag, diese in unseren Augen gefährliche Neuformulierung im parlamentarischen Prozess zu korrigieren. Am 16. März 2017 wurde ein entsprechender Änderungsantrag durch Schleswig-Holstein in den Umweltausschuss eingebracht.
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, Deutschland hat sich international wiederholt vorbildlich für den Schutz der Meere eingesetzt und sollte seinen hierdurch erworbenen guten Ruf nicht beim Meeresschutz an den eigenen Küsten aufs Spiel setzen. Wir appellieren eindringlich an Sie, sich für die Zukunft von Nord- und Ostsee stark zu machen. Bitte nehmen Sie Einfluss, um inhaltsleere Schutzgebietsverordnungen zu verhindern, die im Widerspruch zum EU-Recht und den globalen Verpflichtungen der Bundesrepublik stehen und dem Ausverkauf der Meere Tür und Tor öffnen.
Verwenden Sie sich bitte dafür, dass das Bundesnaturschutzgesetz auch künftig Arten und Lebensräume effektiv schützt, und sorgen Sie dafür, dass Deutschland angesichts der globalen Herausforderungen den Meeresnaturschutz vor der eigenen Haustür nicht vergisst.
*Bund für Umwelt und Naturschutz, Deutscher Naturschutzring, Deutsche Umwelthilfe, Greenpeace, NABU, Naturschutzgesellschaft Schutzstation Wattenmeer, Whale and Dolphin Conservation, WWF